Tourtagebuch

Bundesrepublik Deutschland

Hans-Joachim Greifenstein
hans-greifenstein@gmx.de

Babenhausen, 24.8.2021

betr.: Lesebrief zum Bundestagswahlkampf

Die AfD ist nicht ganz Deutschland

„Geben Sie doch mal wieder Deutschland ihre Stimme“ fordert uns ein Wahlplakat der sogenannten „Alternative für Deutschland“ (AfD) auf. Ich nehme seit 46 Jahren an Wahlen teil und habe noch nie Schwierigkeiten gehabt eine Partei auf dem Wahlzettel zu finden, der ich zutrauen konnte, etwas Gutes für unser Land unternehmen zu wollen. Die AfD habe ich dazu noch nie gebraucht. Im Gegenteil: Ich würde es als politische Wohltat empfinden, wenn sie baldmöglichst in zahnlos knurrender Bedeutungslosigkeit versinken würde, so wie es vor ein paar Jahren die sogenannten Republikaner getan haben.

Die AfD arbeitet nämlich wie die ganze politische Rechte in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert mit dem immer gleichen Trick: Die eigenen politischen Ziele werden mit dem Interesse des ganzen  deutschen Volkes in eins gesetzt und politisch Andersdenkende damit automatisch ausgebürgert. So galten etwa Sozialdemokraten im Kaiserreich als „vaterlandslose Gesellen“. Ihr Gegner Kaiser Wilhelm II. war so eine Art Donald Trump des 19.Jahrhunderts, im Unterschied zum US-Horror-Clown konnte er aber nicht nach vier Jahren Misswirtschaft abgewählt werden, sondern musste gleich einen ganzen Weltkrieg verlieren, bevor er zum Holzhacken ins Exil nach Holland geschickt worden ist. Das hinderte aber seine Anhänger nicht daran, sich auch nach dem verlorenen Krieg immer noch großsprecherisch als die wahren Vertreter des deutschen Volkes aufzuführen. Sie dachten genau wie die AfD heute: Wir sind „Deutschland. Aber normal.“ Und weil eine Katastrophe pro Jahrhundert ihr anscheinend nicht genug war, ist die deutsche Rechte noch ein zweites Mal Amok gelaufen um Revanche zu nehmen und hat Europa vom Atlantik bis zum Ural in einen Friedhof für 65 Millionen Menschen verwandelt.

Politisch Rechtsstehende übersehen merkwürdigerweise oft, dass zu den Opfern des Nationalsozialismus auch Millionen Deutsche gehörten. Waren es zunächst einige zigtausend politisch Andersdenkende, traf es dann mehrere zehntausend jüdischer Menschen. Sie alle waren ja keine „feindlichen Ausländer“, sondern deutsche Kinder, deutsche Frauen und deutsche Männer, nur eben mit dem „falschen“ Partei- oder Gebetbuch. Dann kamen noch Millionen deutsche Bombenopfer und Heimatvertriebene dazu. Wenn man davon ausgeht, dass der Zweite Weltkrieg etwa 1943/44 verloren war, hätte die deutsche Regierung umgehend kapitulieren müssen, um das Leben des eigenen Volkes zu schonen. In den letzten 1 ½ Kriegsjahren sind die meisten deutschen Zivilisten gestorben. Warum? Weil Hitler & Co es in Kauf genommen haben. Das deutsche Volk war ihnen nämlich wurscht. Es ist eine unumstößliche historische Tatsache: Diejenigen, die in den letzten 100 Jahren am lautesten „Deutschland“ geschrien haben, haben deutschen Menschen am meisten geschadet.

Ich setze die AfD nicht mit der NSDAP gleich. Die NSDAP war größer, mächtiger und viel schlimmer, aber im Kern sind beide Parteien Geschwister. Sie gingen bzw. gehen von der gleichen falschen Grundannahme wie alle rechten Parteien aus nämlich dass es verschieden wertvolle Völker auf der Welt gibt: „Unseres“ und das der „Anderen“. Das konnte man vielleicht im 19. Jahrhundert noch für vernünftig halten, und die meisten haben es ja leider auch getan. Im 21. Jahrhundert geht das nun aber ganz bestimmt nicht mehr. Unsere Welt ist so wie die Astronauten von der ISS sie sehen: Ein zerbrechliches Raumschiff im Weltall, die Heimat aller Menschen. Und sie ist kleiner geworden. Wenn in China jemand an Covid erkrankt, sterben Menschen in Italien, wenn Containerschiffe im Suezkanal hängen bleiben kann Miele keine Waschmaschinen mehr bauen und wenn das Klima kippt gibt es Fluten im Ahrtal und Brände in Griechenland. Das wird nicht mehr anders. Zukunftsfähige Politik kann darum nur noch vernünftige Weltinnenpolitik sein.

Die AfD dagegen fordert den Austritt Deutschlands aus der EU. In meinen Augen ist das nationalbesoffener Unfug. Liebe macht manchmal blind und zu viel Vaterlandsliebe blöd.
So wie man Ferkel manchmal vor der erdrückenden Liebe der Muttersau in Schutz nehmen muss, so sehr sollten wir uns vor den grölenden Deutschlandfahnenschwenkern der PEGIDA-Marschierer hüten.

Wer solchen Leuten seine Stimme gibt, der tut Deutschland keinen Gefallen.

f.d.R.: Hans-Joachim Greifenstein